Neue Perspektiven dank Covid-19: Weltweit versuchen Städte, bessere Bedingungen für Radfahrer*innen und Fußgänger*innen zu schaffen. Alexander Czeh vom Deutschen Zentrum für Luft und Raumfahrt e. V. (DLR) erklärt am Beispiel von Berlin, wie das geht. Im Zentrum steht dabei die informative StoryMap.
Alexander Czeh ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Verkehrsforschung des Deutschen Instituts für Luft- und Raumfahrt (DLR) und forscht dort zur Verkehrswende. Wir haben ihm ein paar Fragen gestellt.
Alexander Czeh, um was geht es bei der «Pop-up Infrastructure»?
Um die notwendigen Abstandsregeln während der Pandemie zu gewährleisten, haben Städte wie Berlin Pop-up Radwege installiert. Die Infrastruktur – Baken, Piktogramme und gelbe Markierungen – ist rasch und günstig implementiert und bei Bedarf schnell angepasst. Zusätzlich gibt es jetzt Pop-up Spielstraßen, die temporär immer an Sonn- und Feiertagen mit Hilfe der Anwohner*innen eingerichtet werden, um mehr Platz zum Spielen und Verweilen zu bieten.
Eine StoryMap zeigt, wie Berlin und andere Städte weltweit auf die veränderten Mobilitätsanforderungen in Zeiten von Covid-19 reagieren. Auf der interaktiven Stadtkarte von Berlin können einzelne Projekte lokalisiert sowie ihre Umsetzung durch Bilder und Beschreibungen nachvollzogen werden.
Die StoryMap bietet auch Verweise zu Handbüchern und Regelplänen für die Einrichtung von temporären Infrastrukturen für aktive Mobilität, also für Radfahrer*innen und Fußgänger*innen. Sie zeigt zudem Maßnahmen des nicht-infrastrukturellen Bereichs und weltweite Praxisbeispiele zur Sicherung der Mobilität während der Pandemie, die zum Teil noch weit über die Maßnahmen in Berlin hinausgehen.
Was ist das Bahnbrechende an der Pop-up Infrastructure?
Die Geschwindigkeit bei der Umsetzung und die Flexibilität sind sicher außergewöhnlich. Man hat die Möglichkeit, Neues auszuprobieren und bei Bedarf anzupassen. Auch die Dimension ist einzigartig. In Berlin sind so innerhalb kurzer Zeit relativ viele Kilometer neu genutzter Verkehrsfläche entstanden und weitere in Umsetzung und Planung.
Basis dafür war einerseits das bestehende Mobilitätsgesetz (MobG), welches das Land Berlin als erstes Bundesland 2018 einführte. Zudem muss jeder Bezirk für die Einhaltung der aktuellen Abstandsregeln sorgen.
«Das Außergewöhnliche an der Pop-up Infrastructure sind Geschwindigkeit und Flexibilität bei der Umsetzung.»
Was geschieht mit der temporären Infrastruktur nach Covid-19?
In Berlin hat der Senat bekräftigt, die Infrastruktur größtenteils verstetigen zu wollen und auch die Verantwortlichen im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg, wo die meisten Pop-up Radwege entstanden sind, wollen die neue Aufteilung der Straßenfläche beibehalten. In anderen Bezirken will man noch abwarten und die Funktionalität der neuen Straßenraumaufteilung überprüfen, bevor man final über die dauerhafte Implementierung entscheidet. Dieses Ausprobieren ist ein schönes Beispiel für die Vorteile der Pop-up Infrastruktur.
Weltweit nutzen viele Städte das Momentum, um weitreichende Maßnahmen zur Verbesserung der Bedingungen für die aktive Mobilität weit über die Pandemie hinaus zu schaffen.
Wer steht hinter der StoryMap?
Das Mobilitätsforschungs-Projekt EXPERI hat die StoryMap kreiert, eine Umfrage zur Nutzer*innen-Akzeptanz der Pop-up Radwege in Berlin durchgeführt und kürzlich die entsprechenden Ergebnisse präsentiert.
EXPERI ist ein Kooperationsprojekt der Technischen Universität Berlin, des Instituts für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) Potsdam und des Instituts für Verkehrsforschung des DLR in Berlin. Es untersucht am Beispiel von Berlin, wie die sozial-ökologische Verkehrswende in Metropolregionen gelingen kann.
Neben der prozessorientierten Perspektive auf die Verkehrswende als Transformationsprozess werden mediale Diskurse, Verhaltensänderungen, Partizipationsmöglichkeiten und Flächenverteilung bei der Veränderung von Verkehrsinfrastrukturen untersucht. Dafür soll zum Beispiel auch ein Realexperiment entstehen.
Welche Rolle spielt das EXPERI-Projekt in Corona-Zeiten?
Das Thema der gerechten Flächenverteilung hat durch Corona nochmals stark an Bedeutung gewonnen, die Menschen sind stärker sensibilisiert. Gerade jetzt nimmt der Nutzungsdruck auf Fuß- und Radwegen extrem zu. Einerseits setzen viele Menschen auf aktive Mobilität statt auf den ÖPNV. Zudem versuchen wir alle, die Mindestabstände einzuhalten.
Die Folge: Es wird noch enger auf den Rad- und Fußwegen. Menschen stehen z.B. in Schlangen vor Geschäften. Andere Fußgänger*innen können diese aber kaum überholen oder vorbeigehen, ohne auf den Radweg auszuweichen, da der Platz sehr begrenzt ist. Dann kann es zu Konflikten zwischen Radfahrer*innen und Fußgänger*innen kommen. Gleichzeitig nehmen Autos – meist stehend – einen großen Teil des Straßenraumes ein. Da stellt man sich natürlich die Frage, was wichtiger ist – der Parkplatz des Autos oder die Möglichkeit, die Abstandsregelung einhalten zu können. Das verändert gerade unser Bewusstsein für die Ressource Raum.
Alexander Czeh ist wissenschaftlicher Mitarbeiter beim DLR.
Wie ist der Zusammenhang zwischen Corona und Verkehr?
Insgesamt sehen wir im Moment ein vermindertes Verkehrsaufkommen, da weniger und kürzere Wege zurückgelegt werden. Wir erleben starke Einbrüche beim ÖPNV, dagegen steigen die Anteile der anderen Verkehrsträger Auto, Rad und Fußgänger prozentual.
Wir wissen dank der Zählstellen für Fahrräder in Berlin, dass trotz Krise mehr Wege mit dem Rad zurückgelegt wurden als vor einem Jahr. Das Fahrrad hat stark an Bedeutung gewonnen. Es erscheint daher sinnvoll, die Fahrradstruktur entsprechend anzupassen. Wenn die Menschen jetzt vom ÖPNV auf das Auto umsteigen, erleben wir einen Verkehrsinfarkt. Gleichzeitig können und möchten viele Menschen nicht auf das Auto umsteigen.
Zum Schluss der obligate Blick in die Zukunft: Welche Veränderungen bleiben? Was hat Corona dazu beigetragen?
Ich bin davon überzeugt, dass die öffentliche Debatte über die Nutzung der Flächen des öffentlichen Raumes gestartet wurde. Wir sehen Maßnahmen in London, Brüssel, Paris und Berlin, die vor der Krise nicht denkbar erschienen und jetzt im Eiltempo umgesetzt wurden – und bleiben.
Übrigens: Die erwähnten Handbücher und Regelpläne in der StoryMap sind öffentlich zugänglich. Sie können als Anleitungen und Beispiele für andere Städte und Kommunen dienen, die in Zukunft ähnliche Projekte planen.
Das Interview führte: Cello Rüegg